Es kamen Menschen an – 60 Jahre Gastarbeit aus der Türkei

„Noch weißt du nicht, dass du eintauschst Menschlichkeit gegen eine Fließbandschicht“ so besingt der türkische Künstler Cem Karaca die Ankunft der türkischstämmigen Gastarbeiter*innen in Deutschland. Am 30. Oktober jährte sich das Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und Deutschland zum 60. Mal. Es kamen Menschen aller Berufungen, Ungelernte und Ausgebildete, Männer und Frauen. Heute bilden Menschen mit türkischer Herkunft eine der größten ethnischen Minderheiten in Deutschland.

Von Sheyda Sarikas 

Die Fremde

„Gurbet“ (dt. die Fremde) – so nannten meine türkischen Großeltern Deutschland. Das Wort ist nicht rein geographisch zu verstehen. Eher beschreibt es ein Gefühl. Das Gefühl fern zu sein, fort von der vertrauten Heimat. Genau dorthin ging es in den sechziger und frühen siebziger Jahren für viele Türk:innen.
1961 herrscht große Arbeitslosigkeit in der Türkei. Währenddessen benötigt Deutschlands wachsende Wirtschaft dringend Arbeitskräfte. Am 30. Oktober unterzeichnen die Regierungen beider Länder ein sogenanntes Anwerbeabkommen: Ein nur zweiseitiges Dokument – kürzer als die meisten Arbeitsverträge. Demnach dürfen türkische Staatsangehörige für eine begrenzte Zeit in Deutschland Geld verdienen. Auf Basis dieses Abkommens bewerben sich zwischen 1961 und 1973 mehr als zweieinhalb Millionen Menschen aus der Türkei um eine Arbeitserlaubnis in Deutschland. Jede:r Vierte wird genommen.

Insgesamt reisen über 800.000 Menschen als Gastarbeiter:innen nach Deutschland. Die meisten – wie auch der deutsche Staat – sind überzeugt, dass sie in die Heimat zurückkehren.

Einer von vielen, die in Deutschland ankamen, war Baha Targün. Er kam ursprünglich aus Istanbul. Über das Anwerbeabkommen erhält er eine Arbeitserlaubnis. So wie die meisten Gastarbeiter:innen lockt ihn die Aussicht auf ein besseres Leben. Sie wollen Geld verdienen und dann wieder nach Hause. Ihnen werden in Deutschland nicht nur ein höherer Lohn, sondern auch bessere Arbeitsbedingungen versprochen.

Wilde Streiks

Baha arbeitet mit vielen anderen türkischen Gastarbeiter:innen bei Ford in Köln. Anfang der 70er-Jahre stammen 38 Prozent der Belegschaft des Kölner Automobilherstellers aus der Türkei; am Fließband sind es sogar 90 Prozent. Die türkischen Arbeiter:innen werden für unbeliebte, monotonen Tätigkeiten eingesetzt, die meist schlecht bezahlt sind und keine Zulagen ermöglichen.

Bereits zuvor litten Arbeiter:innen bei Ford unter schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen. Als 1973 der Anwerbestopp eintritt, kündigt Ford 300 türkischstämmige Kolleg:innen fristlos. Die Betroffenen waren verspätet aus ihrem Jahresurlaub zurückgekommen. Die Verspätungen hingen mit der langen Reise in die Türkei zusammen, die im Allgemeinen mit dem Auto unternommen werden musste. Da kam es häufig zu Pannen und Verzögerungen. In den Jahren zuvor war es immer möglich gewesen, den Arbeitsausfall durch Zusatzschichten nachzuholen; dies wurde nun nicht länger erlaubt. Die verbliebenen Mitarbeitenden müssen die gesamte Arbeit mit weniger Personalressourcen übernehmen. Die ungleiche Bezahlung und die immer prekäreren Arbeitsverhältnisse brachten schließlich das Fass zum Überlaufen.

Am 24. August 1973, in der Spätschicht, kommt es zum Eklat: Baha Targün und seine Kolleg:innen schuften der Y-Halle von Ford und sollen weitere Aufgaben der entlassenen Mitarbeitenden übernehmen. Angestiftet von einzelnen Protestrufen und Bahas lauter Stimme, beginnen die Arbeiter:innen im Werk zu demonstrieren. Immer mehr Kolleg:innen schließen sich der Bewegung an, sodass sie schließlich zu Tausenden marschieren und ihre Forderungen äußern: Die Wiedereinstellung der gefeuerten Mitarbeitenden und eine Anpassung der Löhne an die der restlichen Kolleg:innen.

Unter dem Slogan „Eine Mark mehr!“ wehren sich türkische Arbeiter:innen noch tagelang gegen die ungleiche Entlohnung und streiken für bessere Arbeitsbedingungen auf dem Ford-Gelände. Der Streik wird als ‚wild‘ bezeichnet, weil er nicht von Gewerkschaften geführt wird. Trotzdem führt er zu Verhandlungen mit der IG Metall, den Arbeiter:innen und der Betriebsleitung. Die Arbeiter:innen gründen ein eigenes Streikkomitee, um an den Verhandlungen teilnehmen zu können. Auch Baha Targün ist Teil des Komitees.

Die Verhandlungen sind ergebnislos. Der Streik wächst, bis die “Anführer:innen” – unter ihnen Baha –festgenommen werden. Mit den Verhaftungen stoppt der Protest abrupt. Dieses Resultat hatte niemand erwartet. Viele Arbeitenden erscheinen nicht mehr zur Arbeit.

Baha Targün – das Gesicht der Protestbewegung

Baha Targün gab dem Zorn der türkischen Arbeiter:innen ein Gesicht und Tausenden von Betroffenen eine Stimme. Bahas Leidenschaft und große Empathie brachte eine Vielzahl von Menschen zusammen. Nach der Beendigung des Streiks durch die Polizei wurde Baha Targün verhaftet und an die türkische Botschaft in Köln ausgeliefert. Dort wurde er allerdings schon nach kurzer Zeit wieder freigelassen und blieb noch bis 1979 in Deutschland. Im Juli letzten Jahres starb er nach einem schweren Kletterunfall.

Der “Wilde Streik” bei Ford war einer von vielen Protesten innerhalbeiner Streikwelle, die zeitglich über mehrere Betriebe in Deutschland rollte.

Und heute?

12 Jahre nach der Unterzeichnung des Abkommens, während des großen Streiks, gab es kaum Angebote für ein gemeinsames Leben. Stattdessen kam der Anwerbestopp. Die Rückkehr in die Türkei wurde gefördert und Gesetze zum Familiennachzug verschärft. Bis 1991 blieben die Einschränkungen in Kraft. Die „Rückkehrförderung“ war der Fokus der 1970er und 80er Jahre. Eine aktive Integrationspolitik wurde versäumt und führte so zur andauernden strukturellen Benachteiligung vieler migrierten Türk:innen und anderer Gastarbeiter:innen, die sich bis heute auf die soziale Situation auswirken. Zu beobachten ist dies zum Beispiel durch die schlechteren gesellschaftlichen Aufstiegschancen. Auch Rassismus und Ausgrenzung bestehen weiterhin, wie die Mordserie des NSU oder Anschläge wie der in Hanau bis heute zeigen.

Heutzutage halten viele an dem Gedanken fest, dass Deutschland ein besseres Leben bietet. Ökonomische Verhältnisse in der Türkei sind ähnlich bedrückend wie vor 60 Jahren. Auch in Deutschland ist das Thema noch nicht vom Tisch. Durch den Fachkräftemangel besteht großer Bedarf an Arbeitskräften aus dem Ausland.

Wenn Baha Targün oder meine Großeltern auf ihre Ankunft in Deutschland zurückblickten, betrachteten sie die Geschichte meist positiv. Doch wie so oft sind auch diese Erzählungen von Ambivalenz geprägt. Erzählungen, die ebenso von Ausgrenzung und schlechten Arbeitsbedingungen handeln. Die Reise in das gurbet ist ein zweischneidiges Schwert.

Das Anwerbeabkommen jährt sich nun zum sechzigsten mal. In diesen Jahren hat sich Vieles verändert. Doch die Corona-Pandemie hat die heutigen Unzulänglichkeiten in Unternehmen hervorgehoben, in denen die Arbeitsbedingungen –überwiegend für ausländische Arbeitskräfte – besonders schlimm sind. Sei es in der Spargelernte, in der Fleischindustrie oder, wie bereits damals, in der Stahlindustrie. Cem Karacas Lied wird immer noch gesungen. Man hört es auf den Streiks bei Lieferdiensten, der Deutschen Bahn oder IG Metall.

Die Erzählungen lehren uns, dass Fortschritt in der Arbeitswelt intersektional zu betrachten ist und wir marginalen Gruppen mehr Aufmerksamkeit schenken müssen. Arbeitsverhältnisse im Niedriglohnsektor sind auch heutzutage vielerorts prekär. Am dem Beispiel der türkischen Gastarbeiter:innen können wir viel über Selbstorganisation lernen – vor allem aber über Solidarität und Menschlichkeit.

Veröffentlicht am : 23.11.2021