Warum wir dringend weniger arbeiten müssen: Ein Plädoyer für die 20h-Woche

Ein Gastbeitrag von Christine Sing

Ob Führungsfrau, Vater, Angestellte oder Student: Gefühlt hetzen nahezu alle Menschen durch ihren Alltag und funktionieren wie im Hamsterrad. Stress scheint in unserer Gesellschaft zur anerkannten Normalität geworden zu sein.

Gleichzeitig sind die Burnout- & Depressionszahlen so hoch wie nie zuvor und so viele Menschen wie nie zuvor sind auf der Suche nach einem neuen Job. Naturkatastrophen, ein alarmierend niedriger Wald- und Fischbestand und die Pandemie zeigen: Unsere Erde ist am Limit. An allen Ecken & Enden wird deutlich: So wie bisher geht es nicht mehr weiter.

Doch wie kann es anders gehen?

Ich habe viel gelesen, mich ausgetauscht, überlegt und gerätselt: Was könnte der Ausweg aus dieser schier unlösbar erscheinenden Situation sein? Was könnte der Schlüssel dafür sein, dass es uns Menschen & unserer Erde endlich wieder besser geht?

Sicher bietet die Digitalisierung neue Wege, sicher unterstützen technologische Innovationen mehr Nachhaltigkeit, aber sind wir mal ehrlich: einen echten Ausweg bieten sie nicht. Denn obwohl wir mittlerweile Roboter, Handys, Spülmaschinen, Autos & Co. haben: Wirklich lebenswerter haben sie unser Leben nicht gemacht.

Im Zuge meiner Recherchen über die Arbeits- und Menschheitsgeschichte habe ich gelernt: Unsere heutige Vorstellung von Arbeit, in der Menschen wie Maschinen funktionieren sollen, in der wir den Wert einer Person über ihre Produktivität definieren – existiert erst seit der Industrialisierung. Der Begriff „Arbeit“ taucht erstmals 1828 auf. Expert:innen schätzen, dass wir zu Nomad:innen-Zeiten, d.h. bis vor ca. 12.000 Jahren, selten mehr als 15 Stunden pro Woche mit Arbeit verbracht haben, was damals der Beschaffung von Nahrung entsprach. Die übrige Zeit waren wir in Gemeinschaft – d.h. wir haben zusammen gegessen, gespielt und Zeit für Regeneration & Muße gehabt. Den größten Teil des Tages haben wir also „einfach gelebt“.

Im Gegensatz dazu steht unsere heutige Wochengestaltung: Nach acht Stunden oft hochanstrengender & durchgetakteter Arbeit an fünf Tagen pro Woche brauchen wir die Abende & Wochenenden vor allem dafür, dass Körper, Geist und Seele sich erholen können, dass wir das Erlebte verarbeiten und die Energieakkus wieder aufladen können. Es geht im wahrsten Sinn des Wortes ums Überleben. Dass dabei nur noch wenig Zeit zum wirklichen Leben geschweige denn noch Energie dafür bleibt, sich achtsam um die eigene Gesundheit und die der Erde zu kümmern – das ist (leider) logisch.

Was aber, wenn wir nur noch (oder wieder) 4 bis 5 Stunden am Tag mit „klassischer Arbeit“ verbringen? Was, wenn wir das Hamsterrad anhalten und wieder mehr Zeit & Energie zur freien Verfügung haben?

Die aus meiner Sicht größten Vorteile einer solchen radikalen Arbeitszeit-Verkürzung habe ich im Folgenden einmal zusammengefasst:

Vorteil Nr. 1: Wir können unser Leben selbstbestimmter gestalten.

  • Mit einer deutlich verringerten Arbeitszeit pro Tag haben wir die Freiheit über das größere Zeitfenster der hellen Tageszeit selbst zu verfügen.
  • Wir haben mehr Zeit unseren Hobbies & Leidenschaften nachzugehen und Zeit mit unseren Familien, Freund:innen und Kindern zu verbringen – das heißt, die Dinge zu tun, die uns als Mensch einfach guttun und die uns Spaß machen.
  • Anstatt nur an zwei Tagen (dem Wochenende), haben wir dann auch unter der Woche deutlich mehr freie Zeit, der wir uns ohne Termine, Pläne und Struktur einfach hingeben können. Denn entgegen der verbreiteten „Faulheits-Abwertung“ des Nichtstuns, ist es mittlerweile sogar wissenschaftlich erforscht, wie wichtig, Gesundheits- & Kreativitäts-fördernd echte freie Zeit ist. Es existiert sogar ein Begriff dafür: Muße.
  • Und wenn wir alle weniger arbeiten, können Männer wie Frauen wieder mehr entspannte Zeit mit ihren Kindern verbringen, wodurch gleichzeitig viele Herausforderungen der Kinderbetreuung und Gleichberechtigung gelöst wären.

Vorteil Nr. 2: Wir können unser Leben gesünder gestalten – für unser körperliches & mentales Wohlbefinden und für unsere Erde.

  • Bei einer deutlich verringerten Arbeitszeit können wieder mehr entsprechend unseres natürlichen Biorhythmus‘ leben statt uns ständig in vorgefertigte, „das-eine-Modell-muss-so-für alle-passen“-Strukturen, reinzupressen. Das heißt:
  • Wir haben deutlich mehr Zeit zu schlafen & zwar ganz individuell: Ob Nachteule oder früher Vogel – wir können nach tagesaktuellem Bedarf, nach Zyklusphase und nach Jahreszeit flexibel schlafen. Damit können wir Körper & Geist all die Zeit geben, die sie zur Regeneration brauchen und wir müssen eines unserer natürlichsten Bedürfnisse nicht mehr ständig übersteuern.
  • Wir Frauen können endlich zyklusorientiert arbeiten. Statt uns an eine von Männern für Männer gemachte Arbeitsstruktur anzupassen, können wir unsere zyklischen Superkräfte für die deutsche Wirtschaft & Politik viel besser einbringen – ohne dabei ständig gegen unsere Natur zu handeln.
  • Wir müssen uns nicht mehr das schnelle Essen um die Ecke zum Mitnehmen kaufen, sondern können in Ruhe & mit Spaß regionales und gesundes Essen zubereiten. Und gesunde Nahrung ist bekanntlich die beste Medizin.
  • Wir müssen nicht mehr jede Strecke mit dem Auto fahren, unseren Körper im Fitness-Studio nochmal unter Stress setzen oder schnell das billige Fleisch im Discounter um die Ecke einkaufen, weil wir schon wieder unter Zeitdruck sind. Sondern wir können z.B. mit dem Fahrrad fahren und beim Biobauern entspannt unseren Einkauf genießen. Damit muss unser schneller, oft rücksichtsloser Lebensstil nicht länger auf Kosten unseres Körpers, der Erde und der Tiere gehen.
  • Wir haben plötzlich Zeit und Kapazität, die zufällige Begegnung auf der Straße zu genießen und uns auf spontane, ungeplante Erlebnisse einzulassen – und das sind ja bekanntlich meist die Schönsten.

Vorteil Nr. 3: Wir können unser Leben viel sinnstiftender gestalten.

  • Weniger Arbeiten lässt es nicht mehr zu, dass wir uns vor allem über unsere Arbeit definieren. Das mag für den ein oder die andere anfangs durchaus beängstigend und schwierig sein, aber:
  • Wenn wir weniger Zeit damit verbringen, blind im Hamsterrad dem nächsten Karriereziel nachzuhetzen, ein noch schickeres Auto und ein größeres Haus zu kaufen und noch mehr Geld anzuhäufen, dann werden wir plötzlich auf uns selbst zurückgeworfen. Wir dürfen und müssen uns mit uns selbst auseinandersetzen und uns gezwungenermaßen Fragen stellen: Wonach sehne ich mich in meinem Inneren? Was möchte ich in meinem Leben bewegen? Und wie möchte ich meine einzigartige, begrenzte Lebenszeit auf diesem Planeten verbringen?
  • Mit mehr Zeit & Raum erwacht nach und nach auch wieder unsere intrinsische, oft lange unterdrückte Neugierde, es entsteht Platz für die eigenen Gefühle, die ureigensten Bedürfnisse und Interessen, es verschieben sich Werte und Vorstellungen. Wir entwickeln ein Gefühl dafür, was Lebensqualität ganz individuell für uns wirklich ausmacht.
  • Auf dieser Grundlage können wir viel bewusster entscheiden, wie und mit wem wir unsere Zeit verbringen wollen, können unseren eigenen Ideen & Visionen nachgehen und das Herzensprojekt einfach mal umsetzen.
  • Infolgedessen verbringen wir mehr und mehr Zeit mit Dingen, die uns einen Sinn geben, die uns innerlich erfüllen. Dann suchen wir kein kurzes Glück mehr in Shopping-Artikeln oder im „Speed-Erholungsurlaub auf Knopfdruck“, wir brauchen uns nicht mehr mit Alkohol oder künstlichen Bespaßungsprogrammen abzulenken, sondern gewinnen unsere Erfüllung & Zufriedenheit aus sinnstiftenden Tätigkeiten & tiefen zwischenmenschlichen Beziehungen.
  • Und so können wir dann unsere Lebens- und Arbeitszeit bereits im Hier & Jetzt so verbringen, wie wir es wirklich wollen (und das nicht erst in der Midlife-Crisis oder auf dem Sterbebett realisieren), wir können im Heute erfüllt und zufrieden leben.

Aufgrund all dieser vielzähligen Vorteile bin ich überzeugt: Der Ausweg aus der aktuellen Krise führt über eine radikal reduzierte Arbeitszeit. Nur wenn wir deutlich weniger arbeiten und unser Leben entspannter und erfüllender gestalten, dann haben wir auch die erforderliche Zeit und Energie, die wir so dringend brauchen, um bedacht und kreativ ganz neue, menschliche und nachhaltige Wege in Wirtschaft und Politik zu gestalten. Nur dann können wir die Zerstörung unserer Erde aufhalten und endlich wieder LEBEN.

Die Autorin Christine Sing setzt sich als Surf-Beraterin für eine lebenswertere Arbeitswelt ein: Für mehr Frauen in Führung und neue, gesündere Arbeitsformen. Sie selbst ist nach acht Jahren im Volkswagen Konzern aus dem Hamsterrad ausgestiegen & verfolgt nun als Selbstständige ihre Herzens-Themen: Sie berät Frauen für mehr Erfolg & Erfüllung im Beruf und Unternehmen zu NewWork & Diversität.
Heute lebt, arbeitet und surft sie auf Teneriffa und in Esslingen am Neckar (Stuttgart).
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Veröffentlicht am : 07.11.2022