Paradox der Gleichberechtigung: Interessieren sich Frauen nicht für MINT?

Empirische Untersuchungen zeigen, dass in Regionen, in denen eine geringere Gender Pay Gap herrscht, geschlechtsbezogene Unterschiede in der Studien- oder Berufswahl größer sind. Dort studieren weniger Frauen MINTFächer oder arbeiten in den entsprechenden Berufen. Dabei sollte man doch meinen, dass fortgeschrittene Länder wie Norwegen auch viele Ingenieurinnen ausbilden?!

Von Sheyda Sarikas

Das Paradox der Gleichberechtigung


Weltweit entscheiden sich deutlich mehr Männer als Frauen für eine naturwissenschaftliche oder technische Ausbildung. Paradoxerweise ist die Kluft in Gesellschaften mit niedrigerem Gender Pay Gap (Lohnunterschiede zwischen den Geschlechtern) sogar größer, wie ein Ländervergleich zeigt. Skandinavische Länder gelten, was Gleichberechtigung und soziale Gerechtigkeit angeht, als weltweite Vorbilder. Aber – und das ist eines der überraschendsten Ergebnisse der aktuellen Studie von Gijsbert Stoet und David C. Geary – weniger als ein Viertel der Studienabgänger:innen in den sogenannten MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) sind dort weiblich. Ähnlich sieht es in Deutschland aus. In Algerien und Albanien hingegen sind um die 40 Prozentder Studienabgänger:innen weiblich, obwohl diese Länder – gemessen an dem Global Gender Gap Index – in Sachen Gleichberechtigung schlechter abschneiden. Man spricht hier vom Gender Equality Paradox“.


Sind Frauen schlechter in Mathe?


Diese Studie erregte erwartungsgemäß großes Aufsehen. Es dauerte nicht lange, bis die ersten Feminismus-Kritiker:innenlaut wurden: „Seht ihr! Frauen wollen eben nicht in diese Fächer!“. Stimmt das? Frauen, die die freie Wahl haben, wollen eben nicht Mathematik studieren?

Das wäre eine falsche Schlussfolgerung. Ähnlich verhält es sich mit dem Mythos, dass Frauen in naturwissenschaftlichen Fächern generell schwächer sind. Im Gegenteil: Eine weitere Studie zeigt, dass deutlich mehr Frauen die Fähigkeiten besitzen, eine Ausbildung im MINT-Bereich erfolgreich abschließen zu können, als sich tatsächlich dafür entscheiden.

Das Problem liegt eher darin, dass wir Länder mit einem überdurchschnittlichen Gender Pay Gap als generell diskriminierungsfrei deklarieren. Tatsächlich besagt der Index aber nicht, dass es in der Berufswelt keine Hürden mehr für Frauen gibt. Viele Dinge sind so tief in Kulturen und Gesellschaften verankert, dass sie durch bloße Gesetzesänderungen nicht überwunden werden können. Noch immer fühlen sich Frauen in Technikberufen als Exotinnen.Noch immer existiert das Rollenbild, dass Frauen in gegengeschlechtlichen Partnerschaften weniger Geld verdienen sollten und mehr Care-Arbeit leisten.

Ein weiterer Grund für die Diskrepanz: Viele Frauen, die in der Mathematik genauso begabt sind wie ihre männlichen Kollegen, verfügen zudem über hohe sprachliche Fertigkeiten. Frauen sind also nicht per se schlechter in Mathematik oder Physik, sondern haben durch andere Talente noch mehr Möglichkeiten.

In Algerien und Tunesien, wo Frauen in MINT-Studiengängen sogar knapp 40 Prozent ausmachen, hat die Studiumswahl eine viel größere Bedeutung als hierzulande. Es bietet einen Ausweg; die Chance, etwas zu verändern und aus armen oder sozial prekären Verhältnissen auszubrechen. Da ergibt es Sinn, dass mehr Frauen sich um die besser bezahlten Jobs wie Ingenieur:innen bemühen.


Wie wichtig ist die Frauenquote in MINT-Fächern?


Was man mit dieser Erkenntnis anfängt, bleibt jeder und jedem selbst überlassen. Wir sollten vermeiden, aus dem Ländervergleich die falschen Schlüsse zu ziehen.  Es gibt offensichtliche Forschungslücken, die die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen zeigen.

Dennoch liefert die Studie Anreiz, etwas zu ändern. Wie müssen sich MINT-Studiengänge und -Berufe ändern, um mehr Frauen zu überzeugen? Welche Hindernisse existieren noch? Scheinbar zeigen die Werbekampagnen von Universitäten bisher nur wenig Wirkung.

Die Studie zeigt deutlich, wie tief Geschlechter-Stereotype und systemische Ungerechtigkeiten auch in Gesellschaften mit vermeintlich wenig Diskriminierung verankert sind. Denn gerade, wenn Frauen ihren Berufsweg eigentlich freier wählen können, müssten sich – mit Blick auf die Verteilung der natürlichen Begabungen – immer noch mehr Frauen in den MINT-Fächern finden, als sie es derzeit tun.

Wir sollten die Beweggründe junger Frauen in den Blick nehmen, die im MINT-Bereich glänzen würden, sich dann aber doch für einen anderen Weg entscheiden. Denn unabhängig vom Geschlecht: Jeder Mensch hat eigene Vorlieben und Stärken und genau diese sollte eine gut funktionierende Gesellschaft fördern.


Veröffentlicht am : 29.12.2021